„DAS WAR EIN SCHOCK“: MS-PATIENT ERLEBT SCHWEREN KRANKHEITSSCHUB – UND MUSS THERAPIE SELBST ZAHLEN

Krankenkasse zahlt nicht

„Das war ein Schock“: MS-Patient erlebt schweren Krankheitsschub – und muss Therapie selbst zahlen

Marco W. ist 32 Jahre alt, als er an Multipler Skerose erkrankt. Die Krankheit verläuft in immer stärkeren Schüben. Für eine neuartige Therapie beginnt ein Kampf mit der Krankenkasse.

Erding – Marco W. ist 32 Jahre alt, als er eines Morgens nach dem Zähneputzen über dem Waschbecken ausspuckt, sich wieder aufrichtet und plötzlich auf einem Auge nichts mehr sieht. Völlig aus dem Nichts. Das ist heute neun Jahre her – neun Jahre, die das Leben des Erdingers auf den Kopf gestellt haben.

„Von einer Sekunde auf die andere ändert sich alles“, sagt Marco W. Notgedrungen ist er zum Kämpfer geworden in diesen neun Jahren – gegen die tückische Krankheit Multiple Sklerose (MS), aber auch gegen seine Krankenkasse.

Er sitzt in der Küche seiner Erdinger Wohnung und blättert in einem Ordner. „Irgendwo hier muss es sein.“ Er sucht die schriftliche Absage seiner Krankenkasse vivida BKK auf Kostenübernahme für eine autologe Stammzelltransplantation. Darüber streitet Marco W. seit Jahren. Mittlerweile liegt der Fall beim Sozialgericht.

Erster MS-Schub: Erdinger ist plötzlich auf einem Auge blind

Damals, im Mai 2015, erkennen die Ärzte schnell: Marco W. leidet an MS, die Blindheit rührt von einer Entzündung des Sehnervs. MS ist eine unheilbare Autoimmunkrankheit mit Entzündungen des Nervensystems. Sie schädigt Rückenmark und Gehirn und ist im Verlauf so unterschiedlich, dass sie „die Krankheit der 1000 Gesichter“ genannt wird. Früher oder später sind viele Erkrankte auf den Rollstuhl angewiesen.

Marco W. hat anfangs Glück, der Sehnerv erholt sich weitgehend. Ein halbes Jahr später der zweite Schub. Diesmal ist seine linke Körperhälfte taub. Wieder geht es gut aus. Sein Körper spricht auf die Medikamente an, die Ärzte sind zufrieden. Außenstehende merken ihm nichts an.

„Habe es in mich reingefressen“: Gelernter Maler sucht feste Anstellung – zur Sicherheit

Noch weiht er nur wenige ein. „Ich habe es in mich reingefressen“, sagt er, „wollte auf keinen Fall der sein, den alle bemitleiden.“ Aber er hat Menschen an seiner Seite, die ihn stützen. Ein Jahr nach dem ersten Schub heiratet er seine Partnerin Monika. Die beiden sind oft im Schrebergarten, grillen mit Freunden, unternehmen Radtouren.

Der gelernte Maler, der bisher jahrelang als Handwerker selbstständig tätig war, sucht sich eine Arbeitsstelle mit Vertrag. Das erscheint ihm sicherer. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Täglich schluckt er mehrere Medikamente, nimmt an Studien der Münchner Klinik „Rechts der Isar“ teil. Er bewältigt seinen Alltag – mit wachsender Anstrengung, aber er schafft es.

Niederschmetternde Diagnose: Erdinger auf starke Medikamente angewiesen

Bis er im Jahr 2022 wieder ins Krankenhaus kommt. Die Diagnose ist niederschmetternd. „Eine riesengroße Entzündung“, berichtet er. Die Ärzte eröffnen ihm, dass er fortan stärkere Medikamente nehmen müsse – mit teils heftigen Nebenwirkungen. „Das war ein Schock“, erzählt der heute 41-Jährige. „Ich will raus, ich will arbeiten und nicht im Rollstuhl sitzen.“

Marco W. informiert sich auf eigene Faust – und stößt auf eine autologe Stammzelltransplantation, die das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf schon mehrfach erfolgreich durchgeführt hat. Der Erdinger schöpft Hoffnung: Er ist ein geeigneter Kandidat. Doch dann der Dämpfer: Seine Krankenkasse verwehrt die Übernahme der Kosten von rund 50 000 Euro. Die Begründung: Marco W. stünden „noch Alternativen zur Verfügung“, die er nicht ausgeschöpft hat, schreibt die vivida BKK auf Anfrage unserer Zeitung. Und in einem Gutachten von Januar 2023 heißt es: „Eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung (...) liegt nicht vor.“

„Auf gut deutsch: Ich war nicht krank genug“, übersetzt Marco W. das Schreiben. Er legt Widerspruch ein, weitere Gutachten folgen. Irgendwann sucht sich der Erdinger eine Anwältin. Die reicht Klage ein. Mittlerweile liegt der Fall beim Sozialgericht. Marco W. kämpft.

Zu hohe Belastung: Wegen Erkrankung auch in Psychotherapie

Doch das Hin und Her hinterlässt Spuren. Er begibt sich in Psychotherapie, lässt sich krankschreiben. Seine Psychologin rät ihm, sich endlich Freunden und Kollegen zu öffnen. „Dann habe ich mich als MS-Kranker geoutet“, sagt Marco W.. Der Druck lässt nach – etwas.

Aber ihm läuft die Zeit davon: „Man soll vor der Stammzelltransplantation nicht länger als zehn Jahre erkrankt sein“, erklärt er. Dann trifft er einen Entschluss: Er nimmt ein Privatdarlehen über 50 000 Euro auf und lässt den Eingriff auf eigene Kosten durchführen.

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„Fühle mich fit“: Neuartige Therapie gegen Multiple Sklerose schlägt an

Acht Jahre nach der ersten Diagnose werden ihm in Hamburg Stammzellen entnommen und später gereinigt wieder eingesetzt. Nach einer hochdosierten Chemotherapie baut der Körper das Immunsystem wieder neu auf. Die Therapie schlägt an. Drei Monate später geht Marco W. wieder arbeiten. „Ich fühle mich fit“, sagt er heute, sechs Monate später. Viel fitter als zuvor. Momentan nimmt er keine Tabletten mehr. Er hat eine neue Vollzeitstelle angetreten. Es geht ihm gut. Nur die Schulden drücken.

Die Entscheidung der vivida BKK ist Marco W. unbegreiflich. „In Nachbarländern wie der Schweiz oder England ist die Behandlung gang und gäbe“, sagt er. Und es gebe auch Unterschiede von Kasse zu Kasse. „Allein an Arzneikosten spart die vivida BKK jetzt über 10 000 Euro pro Jahr!“ Rechnerisch sei für die Kasse die Transplantation lohnend gewesen. Auch wenn das nebensächlich wäre: „Ich habe ja nur dieses eine Leben. Da darf doch ein wirtschaftlicher Grund keine Rolle spielen.“ ujk

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