GESUNDE ERNäHRUNG: WIE WERDE ICH HUNDERT JAHRE ALT?

Der Mediziner und Ernährungsexperte Andreas Michalsen hat ein neues Buch geschrieben. Dessen Titel – „Ernährung. Meine Quintessenz“ – suggeriert, dass die mehr als 400 Seiten jetzt aber wirklich sämtliche Informationen enthalten, die man für eine gesunde Verpflegung braucht. Der Untertitel lautet: „Kraftvoll und gesund bleiben! Sicher länger leben!“ Sofort denkt man an Bas Kasts Bestseller „Der Ernährungskompass: Das Fazit aller wissenschaftlichen Studien zum Thema Ernährung“, ebenfalls eine Art Rundumschlag. Von diesen Rundumschlägen gibt es inzwischen sehr viele.

Erstaunlich ist, dass bei diesem Thema offenbar nach wie vor ein großes Bedürfnis nach Hilfestellung existiert. Dabei hat der amerikanische Bestsellerautor Michael Pollan die vermeintlich komplizierte Sache mit dem Essen schon vor vielen Jahren auf folgende Regel reduziert: „Eat food. Not too much. Mostly plants.“ Wer sich daran hält, kommt ganz gut durchs Leben. Pollan meint damit, was jeder vernünftige Mensch weiß: Frische Lebensmittel sind gesünder als Junk Food. Zu viel Zucker vergiftet unseren Körper und lässt die Zellen schneller altern. Mit dem Fett, sofern es nicht in Nüssen, Avocados oder Lachs steckt, sollten wir es ebenfalls nicht übertreiben.

Zwei Eier pro Woche sind keine Sünde

Dafür gilt, je mehr Gemüse, desto besser. Obst ist auch gut, aber bitte auf den Fruchtzucker achten. Die deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt zwar nur noch ein Ei pro Woche, aber zwei Eier bringen einen gewiss auch nicht um. Dass die mediterrane Diät, womit nicht Pizza und Pasta gemeint sind, sondern Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte, Fisch in Maßen sowie wenig Fleisch, gesundheitliche Vorteile hat, dürfte sich herumgesprochen haben.

Wer dieses Wissen auf Kosten seiner Gesundheit in den Wind schlägt, dem ergeht es womöglich wie einem von Michalsens Patienten, dessen Geschichte der Autor in seinem Buch beschreibt. Der Mann, Mitte fünfzig, litt unter Übergewicht, Bluthochdruck und einem beginnenden Diabetes. Eine Fettleber zeichnete sich ab. Der Mann fühlte sich oft benommen, war unkonzentriert und verlor rasch die Nerven. Er sagte, dass er keinen Alkohol trinke, sich aber bisweilen betrunken fühle. Die Untersuchung seines Bluts ergab: 1,6 Promille. Der Mann litt unter dem „Eigenbrauerei-Syndrom“, einer Betrunkenheit von innen. Der Grund lag in einer Fehlbesiedlung des Darms mit bestimmten Bakterien. Nach siebentägigem Heilfasten und einer Einnahme von probiotischen Bakterienstämmen ging es dem Patienten deutlich besser, und sein Alkoholspiegel lag bei null.

Der Darm also. Nach Jahrhunderten des Daseins als Aschenputtel in der Medizin werde der Darm seit Kurzem nicht mehr unterschätzt, schreibt Michalsen, wobei man leise Einspruch erheben und auf den vor zehn Jahren erschienenen Bestseller „Darm mit Charme“ von Giulia Enders hinweisen möchte. Damals wurde zumindest in der Öffentlichkeit ziemlich viel über den Darm und seine Bedeutung für unsere Gesundheit gesprochen.

Michalsen steigt in die Tiefen der Darmfunktionen ein, schreibt über kurzkettige Fettsäuren wie die Propion-, Essig- oder Buttersäure und die Transitzeit der Nahrung („Sie ist vermutlich bei 24 Stunden optimal und sollte nicht länger als 48 Stunden betragen.“). Zu Michalsens Quintessenz den Darm betreffend zählt sein Rat: „Der Darm freut sich über gesunde, besonders pflanzliche Nahrung. Versuchen Sie, divers zu essen, nehmen Sie sich vor, pro Woche 30 unterschiedliche Pflanzensorten zu essen. Kaufen Sie nach der Regenbogen-Formel ein, also farbenfroh, von Rot, Orange, Gelb, Grün bis hin zu Violett.“ Das klingt ein bisschen nach der Langversion von Michael Pollans Formel.

Tückisches Geflügel

Andreas Michalsen hat ein kenntnisreiches Buch geschrieben. Die Grundlage seiner Argumentation bildet die Forschung. Ideologie, wie sie auf dem hart umkämpften Feld der Ernährung – Du darfst kein Fleisch essen! – gängig ist, liegt Michalsen fern. Er bedient sich auch keiner historischen Klischees und verordnet wie die Jünger der Paleo-Diät Fleischkonsum, weil der Mensch eben schon immer Fleisch gegessen hat, wodurch sich sein Gehirn erst entwickeln konnte. Wer sich allerdings je mit gesunder Ernährung beschäftigt hat, darf nicht erwarten, dass er das Buch mit großem Staunen liest. Natürlich ist man fasziniert von der Klugheit der körpereigenen Prozesse und Michalsens Erläuterungen, und natürlich horcht man hin und wieder auf, weil man sich fälschlicherweise auf der richtigen Seite gewähnt hatte. Etwa erzählt der Autor, er höre in seiner Beratung oft, man esse jetzt nur noch Geflügel und kein rotes Fleisch mehr. „Meine Antwort, dass dies hinsichtlich des Übergewichts eher schlechter sei, überrascht viele meiner Patienten. Die meisten Umweltgifte und dick machenden Chemikalien werden über die Nahrungskette immer weiter angereichert, sie stecken vor allem in tierischen Produkten, besonders in Geflügel.“

Zu den erhellendsten Kapiteln gehört der Abschnitt über Proteine, für die wir anders als für Fette und Kohlenhydrate keine körpereigenen Speicher besitzen. Der Langlebigkeitsforscher Valter Longo fand heraus, dass nicht Fett und Kohlenhydrate den Alterungsprozess beschleunigen, sondern vor allem die Proteine, von denen jene tierischer Herkunft besonders ins Gewicht fallen. In einem „Spiegel“-Interview sagte er: „Ich kenne keine Bevölkerungsgruppe mit langer Lebensdauer, die auf hohe Protein- und Fettzufuhr gesetzt hat.“

Auch die australische Biologin Samantha Solon-Biet von der University of Sydney konnte belegen, dass Mäuse, die eine proteinarme, kohlenhydratreiche Kost erhielten, länger lebten, wobei die Langlebigkeit nicht nur vom Protein allein abhing, sondern auch von der Kombination mit Kohlenhydraten. Am kürzesten lebten jene Mäuse, die eiweißreiche Low-Carb-Nahrung bekamen. „Gut aber waren deren Fruchtbarkeit und Vitalität“, schreibt Michalsen. Der Forscher David Raubenheimer fasste die Ergebnisse folgendermaßen zusammen: „Unsere sexy schlanken Mäuse, die eine eiweißreiche, kohlenhydratarme Ernährung erhielten, starben früher als ihre Artgenossen. Sie ergaben großartig aussehende Leichen mittleren Alters.“

Ernährungsarmut trifft viele Menschen

Doch das fehlende Wissen ist wohl nicht das größte Problem unserer Ernährungskrise, es ist der oft fehlende Wille, zu verzichten – und bei vielen Menschen sind es schlicht die ökonomischen Umstände. Eine Vollzeit arbeitende, alleinerziehende Mutter dürfte kaum die Kraft haben, sich abends in die Küche zu stellen und eine ausgewogene Mahlzeit mit reichlich Omega-3-Fettsäuren zuzubereiten. Will man ihr vorwerfen, dass sie ein Schnitzel brät, weil es dem Körper schnell die benötigte Energie bereitstellt?

Eine Studie des wissenschaftlichen Beirats für Ernährung und Landwirtschaft aus dem Jahr 2023 kommt zu dem Ergebnis, dass sich hierzulande etwa drei Millionen Menschen keine täglich gesunde Ernährung leisten können. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir schrieb 2022: „Auch in einem reichen Land wie Deutschland gibt es Ernährungsarmut.“

In der Ernährungsdebatte wird zudem gern vergessen, dass wir keine vernünftigen, sondern irrationale Esser sind. Wir treffen täglich mehr als 200 Essensentscheidungen, lassen uns besseren Wissens durch Düfte, Geschmacksverstärker, Zucker und Fett verführen. Der Snack zwischendurch nimmt einen festen Platz in Supermarktregalen ein. Er wird als Ener­giekick beworben, obwohl er in Form eines Schokoriegels Energie raubt.

Unsere jedes kulinarische Bedürfnis befriedigende Lebensmittelwelt, in der mit Geschmacksverstärkern versetzte Fertigprodukte mit frischem Obst und Gemüse um Kunden konkurrieren, ist Paradies und Hölle zugleich. Und die Lösung? Für Mensch und Planet sei die optimale Ernährung, so Michalsen, die von Wissenschaftlern entwickelte „Planetary Health Diet“. Ihre Idee: „Die Gesundheit der Menschheit und die Gesunderhaltung der Erde“ nicht mehr voneinander zu trennen. Auch hier liegt der Rat auf der Hand: viel Gemüse, Hülsenfrüchte, Obst, Nüsse, Vollkorngetreide, wenig Milch und Milchprodukte sowie sehr wenig Fleisch, hochverarbeitete Nahrung sowie Zucker. „Also nichts spektakulär Neues“, schreibt Michalsen. Stimmt. Und in der Theorie klingt das alles auch recht einfach und vernünftig – aber in der Praxis trifft die Entscheidungen eben ein Mensch.

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