ARBEITSUNFäHIG DURCH LONG COVID: GEFAHR FüR DIE GESUNDHEIT – UND DIE DEUTSCHE WIRTSCHAFT?

Aufstehen, duschen, einkaufen, ein paar Haushaltsarbeiten erledigen, eine kleine Runde spazieren gehen und sich anschließend zurück ins Bett legen. Was für viele nach einem ziemlich entspannten Samstag klingen mag, ist für Neele Zschunke die bittere Realität einer äußerst unangenehmen, sowohl körperlich als auch mental herausfordernden Erkrankung, die ihr kaum mehr als die eben aufgelisteten Tagesaktivitäten ermöglicht.

Schon kleinste Anstrengungen können dafür sorgen, dass noch tagelang später körperliche Belastungserscheinungen auftreten: der sogenannte Crash. „Es gibt Tage, an denen ich nicht mal das Bett verlassen kann“, sagt Neele Zschunke der Berliner Zeitung. Die Erkrankung schränke sie im Alltag stark ein, da die Symptome sehr plötzlich auftreten und sie sich dann sofort ausruhen müsse. „Leider kann ich mein Leben nicht mehr so führen wie früher“, sagt die 24-Jährige mit bedrückter Miene.

Zschunke ist sowohl von Long Covid als von auch Myalgischer Enzephalomyelitis betroffen, auch bekannt als Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS). Letzteres gilt als eine der stärksten Formen von Long Covid und kann auch als Folge von Grippe oder des Epstein-Barr-Virus auftreten. Circa die Hälfte der Long-Covid-Patienten erfüllt nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer die Diagnosekriterien für ME/CFS. Betroffene klagen über ähnliche Symptome: körperliche Schwäche, Schmerzen, Konzentrations- und Wortfindungsstörungen, Belastungsintoleranz und viele weitere Einschränkungen.

Bislang fehlt aus Sicht der Erkrankten eine ausreichende Unterstützung durch den Staat. Viel zu lang wurde das Problem ignoriert. Noch immer werden Betroffene häufig fehldiagnostiziert, erhalten keine vernünftige oder sogar eine falsche Therapie und kaum ausreichende soziale und finanzielle Hilfe wie beispielsweise einen Pflegegrad, eine passende Reha oder die Kostenübernahme für Medikamente. Eine Vielzahl der Erkrankten ist zudem arbeitsunfähig. Dass sie auf dem Arbeitsmarkt fehlen, soll Deutschland mehrere Milliarden Euro kosten.

Der Hinweis auf verlorene Arbeitsstunden mag für die Betroffenen zunächst pietätlos oder gar zynisch klingen. Dieser Aspekt dürfte allerdings eine größere Aufmerksamkeit der Politik für die Krankheit schaffen, zumal Finanzminister Christian Lindner (FDP) betont, die Deutschen sollten mehr arbeiten. Jetzt wird der Druck auf die Regierung höher: Sie müsse auch mehr Unterstützung leisten, um die Menschen zurück in Arbeit zu bringen.

Wieviele Menschen in Deutschland an Long Covid und ME/CFS erkrankt sind, lässt sich aufgrund der komplexen Symptomatik nicht genau einschätzen. Eine Person kann entweder Long Covid oder ME/CFS oder ME/CFS als Folge von Long Covid haben.

Weltweit sind derzeit laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS etwa 17 Millionen Menschen an der chronischen Form ME/CFS erkrankt. In Deutschland waren vor der Corona-Pandemie rund 250.000 Menschen betroffen. Mittlerweile wird die Zahl der an ME/CFS Erkrankten von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auf das Doppelte geschätzt, also eine halbe Million. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS beziffert den Anteil der Arbeitsunfähigen an dieser halben Million auf 60 Prozent, also rund 300.000 Menschen. Jeder Vierte kann nicht einmal das Haus verlassen. 

Die Zahl der Menschen, die an Long oder Post Covid leiden, wird in Deutschland vom Deutschen Gewerkschaftsbund auf 2,5 Millionen Menschen geschätzt. Zieht man die 250.000 Betroffenen ab, bei denen Long Covid in eine ME/CFS-Diagnose übergegangen ist, bleiben immer noch 2,25 Millionen Fälle von Long Covid. Laut einer von der Betroffenen-Initiative Long Covid Deutschland (LCD) zitierten Studie liegt der Anteil der Arbeitsunfähigen an allen Long-Covid-Kranken bei rund 20 Prozent, also 450.000 Menschen. Das wären insgesamt 750.000 Arbeitsunfähige in Deutschland, die Long Covid, ME/CFS oder beides haben. 

Ein 2020 veröffentlichter Kurzbericht der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS beziffert indirekte Kosten durch die Arbeitsausfälle der Erkrankten auf einen jährlichen volkswirtschaftlichen Schaden von 7,4 Milliarden Euro. Das alleine macht rund 0,2 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung (3,77 Billionen Euro im letzten Jahr) aus. In Zeiten, als Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bereits eine Prognose von 0,3 Prozent Wirtschaftswachstum in diesem Jahr als gute Nachricht präsentiert, ist das nicht wenig – zudem hat sich die Zahl der ME/CFS-Erkrankten seit 2020 verdoppelt. 

Der Frankfurter Ökonom Afschin Gandjour kam in einer Datenerhebung 2023 zu dem Ergebnis, dass wegen Arbeitsausfällen durch Long Covid ein Bruttowertschöpfungsverlust von 5,7 Milliarden Euro pro Jahr realistisch sei, allerdings bezogen auf das Jahr 2021. Die Kosten der seitdem hinzugekommenen Erkrankten müssen noch addiert werden. „Ein zweistelliger Milliardenbetrag wäre auch in Anbetracht des negativen Wirtschaftswachstums problematisch“, wird Gandjour von der Rheinischen Post zitiert.

Im vergangenen Jahr erhob das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Zusammenarbeit mit dem Verband Long Covid Deutschland neue Daten und kam zu alarmierenden Ergebnissen. Laut ihrer Studie belaufen sich die indirekten Kosten für die deutsche Wirtschaft durch Arbeitsausfälle pro erkrankte Person auf rund 22.000 Euro bei einer durchschnittlichen Krankschreibungsdauer von 237 Tagen. Die Kosten können aufgrund ähnlicher Symptome grob auch auf ME/CFS-Erkrankte übertragen werden.

Rechnet man diese Kosten auf insgesamt 750.000 Erkrankte hoch, so ergibt sich eine bedrückende Situation für die deutsche Wirtschaft. Ganze 16,5 Milliarden Euro könnten Long Covid und ME/CFS jährlich die deutsche Wirtschaft kosten, oder 0,44 Prozent der Wirtschaftsleistung: Somit wäre die von Gandjour bezifferte problematische Grenze deutlich überschritten. 

„Wir können davon ausgehen, dass, solange es weiterhin keine wirksamen Therapien für Long Covid und ME/CFS gibt, sich der Fachkräftemangel deutlich verschärft und die Wirtschaft in Deutschland und weltweit darunter leidet“, prognostiziert Mia Diekow, eine Sprecherin von Long Covid Deutschland, auf Anfrage der Berliner Zeitung.

„Leider hat die Bundesregierung trotz Forderungen von Betroffenenverbänden nie die Weichen dafür gestellt, ausreichend Daten zu erheben“, kritisiert der LCD-Verband die Politik. „Viele Betroffene bekommen bis heute falsche Diagnosen und warten oft Jahre auf eine richtige Therapie.“ Auch die deutsche Gesellschaft für ME/CFS klagt über Fehldiagnosen und unzureichende Unterstützung. „Betroffene werden häufig als nicht schwerwiegend krank angesehen oder fälschlicherweise als psychisch krank fehldiagnostiziert“, heißt es auf der Webseite des Verbands.

Florian Lanz vom GKV-Spitzenverband der Krankenkassen bestätigt Unzulänglichkeiten bei der Behandlung. „Bisherige Behandlungsansätze sind rein symptomatisch ausgerichtet, das heißt, sie zielen auf die Linderung der individuellen Beschwerden ab“, sagt der Verbandssprecher der Berliner Zeitung. Laut einer LCD-Befragung haben 50 Prozent der Erkrankten haben sogar eine Verschlechterung ihres Zustands nach der Reha festgestellt. „Die Reha-Kliniken der Deutschen Rentenversicherung und die gegebenenfalls infrage kommende Erwerbsminderungsrente sind mit dem Krankheitsbild ME/CFS nicht vertraut“, beklagt auch der ME/CFS-Verband Fatigatio e.V.

Außerdem hätten nach wie vor nur wenige Ärzte in Deutschland ausreichendes Fachwissen über Long Covid oder ME/CFS. Wenn doch, müssten diese häufig privat bezahlt werden. Auch Neele Zschunke hat monatelang nach einem passenden Arzt gesucht. „Es ist wahnsinnig schwierig, und wenn man endlich jemanden findet, dann kann es echt teuer werden“, sagt die Berlinerin. „Die Zusage für den Reha-Antrag hat auch ewig gedauert, und es ist super schwierig, eine Reha zu finden, die sich mit der Krankheit auskennt und eine passende Therapie anbietet.“

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und der Verband Long Covid Deutschland haben bereits Anfang 2022 in einem Aktionsplan klare Forderungen an die Bundesregierung gerichtet, was gegen beide Erkrankungen getan werden müsste. Die ME/CFS-Betroffenen halten etwa eine jährliche Summe von 50 Millionen Euro für angemessen, unter anderem für flächendeckende Kompetenzzentren und eine Aufklärungskampagne.

Die Berliner Zeitung befragte vier verantwortliche Bundesministerien. Deren vagen Antworten und Verweise auf andere werfen allerdings die Frage auf, ob man sich des Problems überhaupt bewusst ist – geschweige denn der Notwendigkeit einer Lösung. 

Das Wirtschaftsministerium beispielsweise fühlte sich nicht zuständig. Es würden der Behörde keine Zahlen zu ME/CFS-Erkrankten und auch keine Prognosen zu den Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt oder die Volkswirtschaft vorliegen, hieß es auf Anfrage. Auch das Gesundheitsministerium rechtfertigte die bisher nicht umgesetzte Forderung der Verbände nach mehr Ambulanzen. „In unserem Gesundheitssystem mit geteilten Zuständigkeiten entscheiden allein die entsprechenden Kliniken über die Einrichtung und den Betrieb von Spezialambulanzen.“

Das Arbeitsministerium äußerte sich sehr allgemein zur Kritik an den bestehenden Reha-Maßnahmen. „Die Behandlungskonzepte werden laufend an den Stand der Forschung angepasst, die medizinische Rehabilitation wird in der Regel als wirksam beurteilt“, sagte eine Pressesprecherin auf Anfrage der Berliner Zeitung. Einige Hilfen stellt die Politik dennoch bereit: Sowohl das Forschungs- als auch das Gesundheitsministerium verwiesen in ihrer Antwort auf die erhöhten Forschungs- und Fördergelder von 60 beziehungsweise 130 Millionen Euro bis 2028.

Aus Sicht der deutschen Gesellschaft für ME/CFS ist das trotzdem noch zu wenig, um die Betroffenen angemessen zu unterstützen. Sie fordern mehr Infektionsschutz und mehr Aufklärung, damit Erkrankte rasch die richtige Diagnose bekommen. Und auch der LCD-Verband ist noch nicht zufrieden mit der Arbeit der Politik: „Die politischen Maßnahmen kamen sehr spät und teils noch zu unentschlossen, das Thema wurde lange Zeit unterschätzt.“ Am 12. Mai findet der Internationale ME/CFS-Tag statt: Eine weitere Chance für die Betroffenen, mehr Aufmerksamkeit für die Krankheit zu schaffen.

Neele Zschunke hofft auf eine baldige Besserung der Lage: „Mein großer Wunsch ist, dass die Krankheit in der Gesellschaft noch mehr Beachtung findet und auch die Politik uns mehr Unterstützung gibt, damit wir endlich bessere Therapien und vielleicht dadurch die Aussicht auf eine Genesung bekommen“, sagt die 24-Jährige hoffnungsvoll. Sie will ihr altes Leben zurückhaben, damit auch für sie ein Samstag mit Kochen und Spaziergang bald wieder ein erholsamer Tag statt eine Herausforderung ist.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns gern! [email protected]

2024-05-06T04:30:25Z dg43tfdfdgfd